5 Momente in der Geschichte des Tonbandes und ihr Beitrag zur modernen Musik
Vorher war das Tonband.
Vor dem Synthesizer waren Elektro-ExperimentatorInnen mit einem anderen Instrument zugange – dem Tonbandgerät.
Bevor es möglich war, Musik aufzunehmen, wurden Exzellenz, Virtuosität und Authentizität hauptsächlich mit dem Live-Spielen eines Instruments in Verbindung gebracht. Das Aufnehmen wurde sogar bei seiner Einführung von so manchen MusikerInnen als ‘unlautere’ Aktivität angesehen. Bis es in die Hände derjenigen geriet, die bereit waren, damit zu experimentieren…
Natürlich war das Magnetband nicht der erste Tonträger – vorher gab es bereits Papier- oder Wachszylinder sowie Vinyl-Platten. Das Magnetband verfügte jedoch über einen exzellenten Frequenzgang, es war billig und man konnte es leicht zerschneiden und verkleben. Anders ausgedrückt: das Paradies eines jeden Bastlers.
Das Tonband erschloss das vollkommen neuartige Konzept, Ton aufnehmen und vor allem auch manipulieren zu können. Ab sofort konnte Musik aus Zeit und Raum gelöst, aufgeschnitten und in anderer Ausformung wieder zusammengesetzt werden. Das Tonband wurde auf den Kopf gestellt und wurde zu einem Instrument.
Im Großen und Ganzen hielt mit dem Tonbandgerät eine völlig neue Ära der Kreativität Einzug – deren Nachwirkungen wir noch heute spüren.
Hier sind 5 Schlüsselmomente in der Geschichte der Tonband-Musik, die sich nachhaltig auf die Art, wie wir heute Musik machen, ausgewirkt haben.
1. Die erste elektronische Musikkomposition
“Die Geburtsstätte elektronischer Musik ist Kairo”, schrieb Rob Young in The Wire.
Viele sind der Annahme, dass Pierre Schaeffer den Startschuss für die elektronische Musik gab. Die erste elektronische Komposition der Welt war jedoch “Ta’abir Al-Zaar”, die 1944 vom ägyptischen Experimentator Halim El-Dabh kreiert wurde.
“Die Geburtsstätte elektronischer Musik ist Kairo.” Rob Young, The Wire.
El-Dabh benutzte ein Tonbandgerät, um zaar, die Heilungszeremonie einer Frau, die Trommeln, Flöten und Gesang beinhaltet, einzufangen. Zurück in der Middle East Radio Station benutzte er Echo- und Hallräume, um den Timbre zu manipulieren. Er isolierte, verbesserte und entfernte bestimmte Frequenzen.
Er übertrug seine Komposition auf ein Tonband, bearbeitete sie und benannte sie in “Ta’abir Al-Zaar” um – Der Ausdruck Zaars. Das Original ist nicht mehr erhalten, doch ein 2 Minuten langer Ausschnitt ist unter dem Titel ‘Wire Recorder Piece‘ auf CD erschienen.
El-Dabh ist besonders bekannt für seine in den 1960er Jahren durchgeführten Experimente am Columbia-Princeton Electronic Music Center in den USA—dem ältesten Zentrum für Recherche auf dem Gebiet der elektronischen Musik in den USA. Er war für kurze Zeit der Assistent Igor Stravinskys und arbeitete Seite an Seite mit Namen wie John Cage, Vladimir Ussachevsky und Otto Luening.
2. ‘Tape Music An Historic Concert’
Vladimir Ussachevsky und Otto Luening gehörten zu den ersten amerikanischen Komponisten, die Tonband-Musik in ihre Live-Auftritte und Aufnahmen integrierten.
1952 präsentierten Luening und Ussachevsky das erste Konzert für Tonband-Musik in den USA, und zwar im Museum of Modern Art in New York City. Das Ergebnis wurde 1968 auf Vinyl gepresst und mit
Tape Music An Historic Concert betitelt.
Was das Außergewöhnliche an diesem Konzert war? Es führte die kreativen Möglichkeiten des Tonbandes in Verbindung mit klassischen Instrumenten vor Augen – Verzerrung, Überlagerung, Echos und Klang-Transformationen verschmolzen mit einer Orchesterkomposition.
Dabei entstand ein gespenstischer und für die damalige Zeit vollkommen neuartiger Sound, der den Anfang des amerikanischen Kapitels der Tonband-Musik einläutete – ein Kapitel, das in Frankreich, Großbritannien und anderen Teilen der Welt bereits in vollem Gange war.
“So wie der Maler sein Bild direkt mit Farben malt, so komponiert der Musiker seine Musik direkt mit Ton…” Leopold Stokowski
Der berühmte Dirigent Leopold Stokowski — der sich das Konzert ansah — beschrieb Tonband-Musik als:
“Musik, die direkt mit Ton komponiert ist, statt erst auf ein Stück Papier niedergeschrieben und später in Ton verwandelt zu werden. So wie der Maler sein Bild direkt mit Farben malt, so komponiert der Musiker seine Musik direkt mit Ton…”
Ende der 1950er Jahre gründeten Ussachevsky und Luening das zukunftsträchtige Columbia-Princeton Electronic Music Center.
Pierre Schaeffer und Musique Concrète
Die 1951 gegründete Groupe de Recherches Musicales (GRM) war ein Studio mit Sitz im Hauptquartier der Radiodiffusion-Télévision Française (RTF) in Paris. Die GRM ist eine von Komponisten Pierre Schaeffer und Pierre Henry sowie Ingenieur Jacques Poullin gegründete historische elektroakustische Musikgruppe.
Musique concrète war eine der ersten Bewegungen, die aufgenommene und elektronische Sounds in den Werkzeugkasten der KomponistInnen integrierten.
Das Studio erlaubte Pierre Schaeffer, seine Theorie der musique concrète, einer Musik, die aufgenommene Klänge als Grundlagenmaterial des Komponierens benutzte, weiterzuentwickeln. Schaeffer förderte akusmatisches Zuhören, das darin besteht, sich die akustischen und rhythmischen Qualitäten von Klängen genauer anzuhören, ohne zu wissen oder versuchen zu wissen, was sie verursacht. Das Tonband spielte als Medium eine entscheidende Rolle für die Aufnahme und das Manipulieren dieser Experimente.
Die von Schaeffer entwickelten Verfahren für das Bearbeiten von Klängen legte das Fundament für Sampling und Computer-Musik, die wir heute machen und nutzen, insbesondere für das Verändern des Pitch, das Rückwärtsspielen einer Aufnahme, Schneiden, Filtern und vieles mehr…
Musique concrète war eine der ersten Bewegungen, die aufgenommene und elektronische Sounds in den Werkzeugkasten der Komponisten integrierte. Sie war eine Vorgängerin elektronisch generierten Sounds, deren Verfahren noch in der heutigen Musikproduktion nachhallen.
Pauline Oliveros und das Tape Music Center
Zu etwa der gleichen Zeit Ende der 50er Jahre gründete die Avantgarde-Komponistin und Akkordeonistin Pauline Oliveros in San Francisco das Tape Music Center.
Oliveros eignete sich eine andere Herangehensweise an das Komponieren an:
“Während alle Anderen Materialien zerschnitten und wieder zusammenklebten, fand ich einen Weg, mit der Elektronik zu improvisieren. Dieses Improvisationssystem nutzte Differenztone zwischen Oszillatoren. Indem ich Oszillatoren so einstellte, dass sie sich oberhalb des menschlichen Hörbereichs befanden, und die Differenztone zwischen den Oszillatoren in einem Tape-Delay-System nutzte, verursachte das viele Schwebungsfrequenzen mit der Bias-Spannung des Tonbandgeräts. So habe ich meine frühe elektronische Musik gemacht.”
“Während alle Anderen Materialien zerschnitten und wieder zusammenklebten, fand ich einen Weg, mit der Elektronik zu improvisieren.” Pauline Oliveros
Oliveros wurde zur Pionierin von Verfahren der Live-Performance mit Tonbandgeräten. Sie setzte große Tonbandmaschinen mit großen Haspeln ein. Die Anlieferungshaspel lief über ein Deck zu einem nächsten, manchmal sogar zu einem dritten. Alle Decks nahmen auf und speisten die Aufnahme in das nächste Deck und dann wieder zurück zum ersten.
Sie setzte kein Loops ein, sondern das Band lief so lange, bis es zu Ende war. In Oliveros Händen wurde das Tonbandgerät zu einem Performance-Instrument und ging damit weit über seine Funktion als Aufnahmegerät hinaus. Dies war der Anfang einer langen Tradition des ‘Missbrauchs’ und der Umdeutung von Aufnahme-Equipment.
1969 versammelte sie ihre Verfahren in einem Essay: “Tape Delay Techniques for Electronic Music Composition” (Tape-Delay-Verfahren für die Komposition elektronischer Musik).
Delia Derbyshire und der BBC Radiophonic Workshop
Delia Derbyshire begann 1962 ihre Arbeit am BBC Radiophonic Workshop in London. Derbyshire nutzte den Workshop als Spielplatz für ihre innovativen Ideen. Sie benutzte Verfahren der musique concrète, die sich an gefundenen Klängen bedienten – wie einer gezupften Saite als Ausgangspunkt für eine Bassline zusammen mit Sinustönen und weißem Rauchen, die zerschnitten, gefiltert und geformt wurden.
“In diesem Jahrhundert haben wir zu Delia aufgeholt. Wir können jetzt digital das tun, was Delia in analoger Hinsicht getan hat. Delia würde sich heutzutage langweilen.” Mark Ayres
Ihre wohl berühmteste Arbeit ist der Titelsong der Kindersendung Doctor Who, einer der ersten Titelsongs im Fernsehen, der komplett elektronisch kreiert wurde.
Jeder Ton musste als ein separates Stück Tonband erstellt werden. Jedes Teil wurde dann zusammengeschnitten, um den Rhythmus und die Melodien zu erzeugen. Es gab zu dieser Zeit noch keine mehrspurige Aufnahme, der finale Mix wurde dementsprechend erstellt, indem die diversen Bandstücke zusammen abgespielt wurden in der Hoffnung, sie würden von Anfang bis Ende synchron miteinander ablaufen.
“In diesem Jahrhundert haben wir zu Delia aufgeholt. Wir können jetzt digital das tun, was Delia in analoger Hinsicht getan hat. Delia würde sich heutzutage langweilen”, behauptet Mark Ayres im Dokumentarfilm The Delian Mode.
Dem Tonband sei Dank
Die Art von Musik, die dem BBC Radiophonic Workshop, dem Tape Music Center, der GRM und anderen Institutionen dieser Zeit entsprungen ist, hat eine ästhetisches und technisches Erbe hinterlassen, das Generationen aufstrebender Musiker inspirierte. Sie legte das Fundament für die Art, wie wir heutzutage Musik kreieren.
Der renommierte deutsche Komponist Karlheinz Stockhausen kommentierte die Wichtigkeit des Tonbandes folgendermaßen:
“Der wichtigste Aspekt ist: Zum ersten Mal in der Geschichte haben wir die Möglichkeit, Klang für eine Weile festzuhalten und ihn zu bearbeiten. Traditionell gesehen war Klang stets in Bewegung. Einmal produziert, war er auch schon wieder verschwunden.”
Das Tonband ist die Technologie, die uns Aufnehmen, Sampling, Looping, Delay und vieles mehr beschert hat. Wenn es einem also das nächste Mal so vorkommt, als sei das Tonband im digitalen Zeitalter obsolet, dann sollte man sich in Erinnerung rufen, dass seine Geschichte jeden Tag bis in die moderne Musik ausstrahlt.
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