Momente der Musikgeschichte: Die vergessene Kunst der Musik-Manifeste
Es war einmal, da haben Bands genauso viele Manifeste wie Platten herausgebracht.
Ein Manifest ist eine Stellungnahme bezüglich deiner künstlerischen Vision. Es hält schriftlich fest, wofür du politisch und ästhetisch stehst. Es drückt aus, was du in dieser Welt durch deine Kunst verändern möchtest.
Bei der Musik geht es nicht einfach nur ums Schreiben von Songs, sondern darum, einen kulturellen Beitrag zu leisten. Manifeste können ganze Bewegungen anstoßen, sozialen Wandel hervorrufen und ästhetische Revolutionen auslösen, die unsere Vorstellung von Kunst, Musik und vielem mehr verändern.
Manche von ihnen haben die Zukunft vorhergesagt, doch alle von ihnen haben sich von der Vergangenheit losgesagt.
Musik-Manifeste mögen einem zwar wie eine vergessene Kunst vorkommen, doch sie stellen ein kraftvolles Werkzeug dar, das DRINGEND wiederbelebt werden sollte. Musik-Manifeste verstärken deine musikalische Message und verleihen ihr mehr Lebensdauer.
Hier sind 8 bahnbrechende Manifeste von MusikerInnen, die dich dazu inspirieren werden, dein eigenes zu verfassen:
Ferruccio Busoni, Sketch of a New Aesthetic of Music (Entwurf einer neuen Ästhetik der Musik) (1907)
Das Erstaunliche an diesem Text ist sein frühes Entstehungsjahr: 1907. Es kam noch vor den berühmten VordenkerInnen der Musik wie Arnold Schoenberg, Edgard Varèse, John Cage und Karlheinz Stockhausen.
Zu Busonis Zeiten waren viele Leute der Ansicht, dass sich die Musikkomposition auf dem absteigenden Ast befand. Sie trauerten der Musik von Bach, Mozart und Beethoven hinterher, die ihrer Meinung nach die beste Musik aller Zeiten gewesen war.
Heute wissen wir alle, dass das nicht stimmte – eine solch mürrische Einstellung entsteht meistens durch Angst und Engstirnigkeit. Busonis Manifest lieferte eine frischere Perspektive: Er schrieb, dass die beste Musik aller Zeiten erst noch kommen würde – und dass Musik über die kommenden tausende von Jahren immer besser werden würde (dem kann ich nur zustimmen). Sketch of a New Aesthetic of Music beschreibt die Musik auf höchst metaphorische und romantische Weise – als ein Kind, das für die “Freiheit” noch nicht reif genug ist.
[Busonis Manifest] ist eines der zündendsten Manifeste für das Erschaffen neuer Musik und den Impetus für Musiker, schöne Klänge frei von jeglichen Dogmen, Regeln und Auflagen zu erschaffen. – Adam Harper in Dummy mag
Im Gegensatz zu vielen seiner ZeitgenossInnen war Busoni ein begeisterter Anhänger der Technologie und dem, was sie für die Musik tun konnte. In seinem Manifest erwähnt er frühe Prototypen von Thaddeus Cahill, dem Erfinder des Telharmoniums, dem ersten nennenswerten elektronischen Instrument.
Du kannst dir hier sein Manifest durchlesen oder dir das Buch oder ebook bei Precinct kaufen.
Luigi Russolo, Art of Noises (Kunst der Geräusche) (1913)
Russolo, der sein Manifest 1913 verfasste, war der Meinung, dass die Leute sich langsam an die neuen Klänge der Urbanisation und der Arbeit in den Fabriken gewöhnten: mechanisch, schnell und rhythmisch.
Jede Manifestation unseres Lebens wird von einem Geräusch begleitet. Wir sind mit diesen Geräuschen vertraut. Diese Geräusche haben die Kraft, uns wieder zum Leben zu erwecken. […] Geräusche sprudeln verwirrt und unregelmäßig aus dem Leben und geben sich uns niemals vollkommen zu erkennen – sie halten unzählige Überraschungen für uns bereit. – Luigi Russolo
Russolo fand diese Geräusche viel interessanter und musikalischer als die ‘langweiligen’ Klänge traditioneller Orchestermusik. Er regte Leute dazu an, auf die Geräusche in ihrer Umgebung zu achten und sie als Musik zu betrachten.
Art of Noises sah zudem den Einsatz von Synthesizern zur Erschaffung völlig neuartiger Klänge voraus. Rusolo schrieb: “Sobald wir das mechanische Prinzip, das für die Erzeugung von bestimmten Geräuschen verantwortlich ist, gefunden haben, werden wir in der Lage sein, ihre Tonhöhen gemäß den Gesetzen der Akustik zu verändern.” Und das war in 1913!
Auch wenn die Futuristen für ihre Zuneigung zum Krieg, zur Gewalt und dem nationalistischen Rechtsradikalismus bekannt waren, so bleibt Art of Noises nichtsdestotrotz ein faszinierendes Dokument. Es hielt Ideen fest, die viele Jahrzehnte später wieder in experimenteller, Punk- und Noise-Musik aufkamen.
Hier kannst du das Manifest online lesen.
Brian Eno, the ambient music manifesto (das ambientmusik-manifest) (1978)
Dieses kurze Manifest wurde im Booklet des bahnbrechenden Albums Ambient 1: Music for Airports veröffentlicht. Brian Eno definiert darin, was ‘Ambientmusik’ für ihn bedeutet – eine Definition, die zum Synonym des Genres wurde.
Seit drei Jahren interessiere ich mich sehr für Musik als Ambiente und ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass es möglich ist, Material zu produzieren, das benutzt werden kann, ohne auf irgendeine Weise kompromittiert zu werden. – Brian Eno
Brian Eno ist ein britischer Musiker und bildender Künstler. Er ist einer der aktivsten und gefeiertsten Musiker des Ambient-Genres.
In seinem Manifest beschreibt er, Wie Ambientmusik – im Gegensatz zu ‘Muzak’ oder Hintergrundmusik – ein Gefühl von “Zweifel” und “Ungewissheit” beibehält. Sie induziere Ruhe und kreiere “Raum zum denken”.
Eno fügt hinzu: “Ambientmusik muss diverse Niveaus an Aufmerksamkeit beim Zuhören bedienen können, ohne eines von ihnen zu bevorzugen; sie muss ignorierbar und interessant zugleich sein.”
Brian Enos Ambient-Revolution kommt nicht als lauter und gewaltsamer Aufprall daher, sondern ist leise, meditativ und tief inspirierend.
Hier kannst du das Manifest online lesen.
Bikini Kill, What is Riot Grrrl? (Was ist Riot Grrrl?)(1991)
Riot Grrrl war eine feministische Punk-Bewegung der 90er Jahre, das in Olympia (Washington, United States) begann und von Bands wie Bikini Kill, Sleater-Kinney, Bratmobile und vielen weiteren angeführt wurde.
Es stellt einen wichtigen kulturellen und politischen Moment in der Musikgeschichte dar. Es legte die in der Indie-Rock- und Punk-Szene herrschende Misogynie offen. Riot grrrls machten Musik, doch sie betrieben auch Aktivismus für soziale Gerechtigkeit, organisierten Kundgebungen und verfassten ‘zines’.
Die zines, die sie produzierten, waren mindestens genauso wichtig wie die Musik – wenn nicht sogar noch wichtiger. In ihnen wurde die Philosophie der Bewegung verewigt, wodurch die Bewegung zu nationaler Aufmerksamkeit gelangte.
What is Riot Grrrl? erschien 1991 im zine von Bikini Kill und versinnbildlichte, wofür die Bewegung stand:
WEIL wir Mädels uns nach Platten und Büchern und Fanzines sehnen, die UNS ansprechen, in die WIR einbezogen sind und die WIR auf unsere eigene Art verstehen können.
WEIL wir es Mädels einfacher machen wollen, die Arbeit der anderen zu sehen/hören, sodass wir Strategien austauschen und uns gegenseitig kritisieren-applaudieren können.
WEIL wir die Mittel der Produktion an uns reißen müssen, um unser eigenes Gemotze zu kreieren.
…
Lies dir das Manifest hier durch. Oder noch besser: sieh Kathleen Hanna dabei zu, wie sie es laut vorliest.
Matthew Herbert, P.C.C.O.M. (2005)
P.C.C.O.M. steht für Personal Contract for the Composition Of Music [Incorporating the Manifesto of Mistakes] (Persönlicher Vertrag für das Komponieren von Musik [Beinhaltet das Manifest der Fehler]). Es ist eher eine persönliche Anleitung zum Musikmachen als ein Manifest und Herbert warnt, dass es “nicht als definitive Formel für das Schreiben von Musik gedacht ist, weder von mir, noch von anderen Leuten”.
Matthew Herbert ist Produzent elektronischer Musik und bekannt dafür, dass er alltägliche Klänge aufnimmt und daraus Tracks macht. Da überrascht es nicht, dass es in seinem Manifest hauptsächlich um Sampling und Fehler geht.
Seiner Meinung nach sind Presets so wie das Sampling der Musik Anderer (sowie generell alle zuvor aufgenommenen Klänge) inakzeptabel. Fehler hingegen schätzt er sehr. Seiner Ansicht nach sind sie genauso wichtig wie bewusste Entscheidungen und sollten daher die gleiche Aufmerksam bekommen.
Es kann gut sein, dass dich dieser ‘persönliche Vertrag’ etwas überrascht oder sogar verärgert. Doch was du daraus mitnehmen solltest, ist, dass es manchmal noch hilfreicher für die Kreativität sein kann, sich selbst Grenzen und Regeln zu setzen.
Lies dir das komplette Manifest hier durch.
The Knife, Shaking the Habitual (Das Gewohnte erschüttern)(2013)
Shaking the Habitual ist das vierte Studioalbum des schwedischen Elektro-Duos The Knife. Sie wurden durch ihre experimentelle Herangehensweise an Pop-Elektronika, die venezianischen Masken, die sie bei ihren Auftritten tragen, und ihren Antikonformismus berühmt.
Wie der Titel bereits vermuten lässt, ist Shaking the Habitual eine Aufforderung dazu, den Status-Quo aufzuwirbeln. Das Album erschien mit Comics, die zur Abschaffung extremen Reichtums aufriefen, und einem Manifest.
Das Manifest ist ein langer poetischer Brief, der an manchen Stellen schwer zu entschlüsseln ist. Doch er beinhaltet viele kleine Weisheiten:
Wir haben ein paar Entscheidungen getroffen.
Wir wollen mehr scheitern, ohne Autorität handeln […]
Wir müssen jetzt beginnen. Wir stellen den Prozess an erste Stelle. […]
Das Manifest von Shaking the Habitual kritisiert zudem den Hyper-Kapitalismus, das Patriarchat, den Klimawandel und Monsanto. Wer hat gesagt, elektronische Musik kann nicht politisch sein?
The Knife demonstrieren, wie ein Album mehr als nur Musik sein kann – unter anderem Poesie und Comics.
Hier kannst du das Manifest lesen, und hier die Comics.
Catherine Hilgers, Rave Ethics (Rave-Ethik)(2013)
Rave Ethics ist genau genommen kein Manifest, sondern ein zine. Ich habe es mit in die Liste aufgenommen, weil es eine grundlegende Frage beantwortet: Was können wir tun, um Club- und Rave-Räume sicherer und spaßiger zu gestalten?
Denn Raves sind nicht nur Partys, auf die die Leute gehen, um sich zu verlieren und abzuschießen.
Wie Catherine Hilgers (die Verfasserin von Rave Ethics) sagt: “Raves … können auch Gemeinschaft, Kultur, Zuhause, Familie und die Einführung in alternative oder anti-kapitalistische Lebensstile sein. Sie können Instrumente für konkreten sozialen Wandel sein!”
Doch viele Partys und Konzerte sind nicht sicher – insbesondere für marginalisierte Gruppen (Frauen, People of Color, Trans-Leute usw.).
Rave Ethics versucht, ClubgängerInnen und RaverInnen darüber aufzuklären, wie man eine respektvolle Atmosphäre aus Wohlbefinden und Spaß kreiert. Es ist eine praktische Anleitung für sicheres Verhalten auf dem Tanzboden, von physischer Sicherheit, über Drogenkonsum bis hin zu einvernehmlichem Flirten. Diese Konzepte lassen sich auf alle Konzerte und Veranstaltungen übertragen.
Ich möchte den Rave mit folgender Anregung durchdringen: ‘Übernimm Verantwortung für die Energie, die du in einen Raum bringst (von Oprah übernommen). – Catherine Hilgers
Unter den Beitragenden befinden sich viele weibliche DJs, KünstlerInnen und Party-PromoterInnen aus aller Welt.
Hier kannst du das zine Herunterladen. Drucke es aus, lies es, gib es weiter!
Prince Rama, The Now Age (Das Jetzt-Zeitalter)(2011)
Prince Rama ist ein New Age Psych-Dance Projekt aus Brookly, das von den Larson-Schwestern Taraka and Nimai gestartet wurde. In ihrem Manifest definieren sie ihre komplette Philosophie, indem sie ihre leitende Ästhetik sowie ihre Definition von Wirklichkeit, Musik und Klang darlegen.
The Now Age bietet eine spirituelle Sicht auf Konzerte, Disko-Kugeln und Platten, die dich diese Dinge in einem neuen Licht sehen lassen werden.
Im Now Age sollte das Musikkonzert als eine Brücke zwischen den Welten fungieren. Und dies beschränkt sich nicht auf eine elitäre Gruppe aus Bands. Jede Band kann daran teilnehmen, dieses Potential zu aktivieren. – Prince Rama
Für Prince Rama ist das Verfassen eines Manifests fester Bestandteil des Musikmachens. Manche Teile ihres kreativen Prozesses fließen in die Musik, andere ins Schreiben oder Bildmaterial:
Taraka hat mir per E-Mail folgendes mitgeteilt: “Für mich sind Manifeste auch eine Art, alle zerstreuten Ideen, Philosophien und Bilder einzusammeln. […] Ich sehe es nicht wirklich als etwas von der Musik Separates an, da zu der Zeit, als das Album geschrieben wurde, alles in derselben primordialen Suppe geköchelt hat – nur dass manche Teile der Suppe zu etwas mehr Musikalischem und andere eher zu etwas Philosophischem oder Visuellen geworden sind.”
Im September 2016 veröffentlichten Prince Rama ihr zweites Manifest für die PS1 Art Book Fair.
Lies dir The Now Age online durch.
Dein Manifest, hier und jetzt!
Manifeste können in allen Formen daherkommen: Online-Bücher, zines, Booklet-Notizen, selbst als T-Shirts. Sie enthalten die Kraft der Ideen der KünstlerInnen – und die Kraft, sie zu verbreiten.
Die Modedesignerin und Punk-Persönlichkeit Vivienne Westwood hat in ihrem eigenen Manifest geschrieben: “Wir haben die Wahl, kultivierter und dadurch menschlicher zu werden.”
Manifeste stellen einen Schritt in diese Richtung dar.
Deine Musik und deine Ideen gehen Hand in Hand. Also mach’ was aus deinen Booklet-Notizen! Notiere deine Überzeugungen. Sei eine Inspiration für Andere. Tritt für sozialen Wandel ein. So wird deine kreative Message laut und deutlich und deine Musik dadurch umso bedeutsamer.
Auf geht’s, setz’ dich an dein Manifest!
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